Zusammenleben der nationalen und ethnischen gruppen in völgység vom zweiten weltkrieg bis in die gegenwart

 

7.  Die ethnische Gliederung der lokalen Gesellschaft

Meine frühere Zielsetzung umfasste die Untersuchung des Integrationsprozesses der ungarischen Siedlergruppen in Völgység und dehnte sich allmählich auch auf die Erfassung der von mehreren Kulturen geprägten lokalen gesellschaftlichen Verhältnisse aus. Die Auswertung der 2004 durchgeführten, 10 Dörfer umfassenden sozialgeographischen Fragebogenerhebung ermöglichte auf den bereits vorliegenden Ergebnissen aufbauend die Einbettung der behandelten Zeitspanne in langfristige Prozesse. Völgység spiegelte die speziellen feudalen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der ehemaligen türkischen Eroberungsgebiete Südtransdanubiens wieder und war als solches von Bauerndörfern mit deutscher Mehrheit und von Großgrundbesitzen gekennzeichnet. Ich habe kurz die Entwicklung der kapitalistischen Ära bis zum zweiten Weltkrieg zusammengefasst.

Informationen zu den gesellschaftlichen Verhältnissen der ethnisch immer mehr zur Homogenität tendierenden Dörfer – und auf diese Weise von der Gesellschaft der Völgységer Deutschen und zum Teil von der der in Minderheit lebenden Ungarn – fand ich in „Gazdacímtár“ 1935 und in den Statistiken zur Volkszählung 1941 (Tabelle 12). Zwei für die Gesellschaftsstruktur der Dörfer relevante Faktoren, das von dem Großgrundbesitz abhängige Agrarproletariat und die Bauerngesellschaft ergeben mit ihrer spezifischen Textur die für die einzelnen Dörfer geltenden speziellen Formeln, wonach die Siedlungen in drei Hauptgruppen eingeteilt werden können.

I. Bauerndörfer. Diese sind von einer starken bäuerlichen Mittelschicht geprägt, der Anteil der Grundbesitze mit 10-50 Joch liegt zwischen 33 und 50 %. Der Anteil von Kleinst- und Kleinbesitzern (0-3, 3-5 Katastraljoch.) ist mit 30 – 40 % relativ gering. Der Anteil der Tagelöhner und der Agrararbeiter liegt fallweise unter 10 bzw. 20 %. Es gibt keine Großgrundbesitzer. Hierher gehören Bonyhádvarasd, Kisdorog, Mucsfa, Tevel und Györe. Die relativ hohe Zahl der selbständigen Gewerbetreibenden ist in Tevel und Kisdorog ein Beweis für den Entwicklungsgrad. In Györe dagegen gab es weniger Agrararbeiter als Bergleute (38 vs. 47 Personen).

II. Kleinhäuslerdörfer. Die Zahl der Kleinstbesitzer (0-5 Katastraljoch) ist sehr hoch, er erreicht sogar 70%. Der Anteil der noch lebensfähigen Grundbesitze mit über 10 Joch liegt unter 10 %. Dominant ist das Gewicht des Großgrundbesitzes. Typisch für die Agrargesellschaft von Závod und Ófalu. Die hohe Zahl der Handwerker kann bei Závod mit dem diesbezüglichen Bedarf des Großgrundbesitzes erklärt werden, während, in Ófalu beschränkte aber auch die bewaldete Hügellandschaft   die Bewirtschaftung der Felder.

III. Domänenzentren. Die beiden Domänenzentren weisen zum Teil unterschiedliche gesellschaftliche Strukturen auf. In Bátaapáti ist die Hälfte der Agrarwerktätigen zwar selbständig, aber der Anteil der Kleinstbesitzer ist mit 54 % sehr hoch. Kleine und mittlere Grundbesitze machen je 1/4 aus.  Neben dem 1530 Joch großen Grundbesitz von Károly Apponyi in Pálfa besitzen lediglich die Urbarialgemeinschaft der Gemeinde sowie zwei reiche deutsche Bauern mehr als 100 Joch Feld. Die Zahl der Agrararbeiter macht beinahe ein Viertel der Agrarwerktätigen aus. Die Besitztümer der Bauern in Lengyel waren von einer zerstückelten Besitzstruktur gekennzeichnet. Kleinst- und Kleinbesitze liegen insgesamt unter 30 %, der Anteil der mittleren Bauernhöfe (10 Katastraljoch) liegt jedoch über 1/3. Die Knechte bzw. Tagelöhner machten dagegen 1/3 der Agrarverdiener aus. Das Ungarische Nationalmuseum war mit 508 Joch der größte Grundbesitzer. Sehr bedeutend war die Zahl der im Domänenzentrum arbeitenden selbständigen Handwerker, sie liegt nur knapp unter der der Knechte (82 Personen).

Der zweite Weltkrieg verursachte in den untersuchten Dörfern bedeutende Menschenverluste (Tevel: 166, Bátaapáti 44, Bonyhádvarasd: 32, Györe 34, Kisvejke: 39 Personen). Aus dem Komitat Tolna folgten 3762 Einwohner freiwillig den deutschen Truppen, mit Gewalt verschleppt wurden 462 Personen, der Abgang macht somit 4224 Personen aus; es ist 1,6 % der  1941 gezählten Bevölkerung geflüchtet (Solymár I. 1997, Füzes M. 1986). Die sowjetischen Truppen verschleppten aus dem Kreis Völgység beinahe 2000 Personen zur Zwangsarbeit („malenki robot“) in die Ukraine; aus den untersuchten 8 Gemeinden waren es 487 Personen (Füzes M. 1991).

Die Tendenzen zeichnen sich auch in den Aussiedlungszahlen ab, aber die Vermögensenteignungen 1947-48 verdeutlicht besser die radikalen Veränderungen, die die An- und Aussiedlungen bewirkt haben. Infolge der Ansiedlungen gelangten 1000 Wohnimmobilien des Dorfkreises – zusammen mit den drei Kontrolldörfern 1100 Immobilien – in den Besitz von Siedlern, und das bedeutete die Vermögensenteignung und Vertreibung von genau so vielen deutschen Familien vor 1948. Damit geriet das Deutschtum als Nationalität in Minderheit (Tabelle 12).

Die Ansiedlung verursachte in Völgység eher eine große Unsicherheit. Die Periode von 1945 bis 1948 war hier nicht organisch, weil der mit starker geographischer und gesellschaftlicher Mobilität verbundene Zwangsmigrationsprozess die bereits organisch gewordenen lokalen Strukturen auflöste. Die neue Bevölkerung konnte sich nicht organisch integrieren, im Leben der ersten Generation der Siedler machte sich mehrmals der Zwang zu einem Neubeginn bemerkbar. Es begann das Zusammenleben der alteingesessenen Einwohner mit den Siedlern, ein auch mit den Unsicherheiten des Wandels belasteter komplexer Prozess, in dem die externen Einwirkungen immer dominanter erschienen.

Die Bevölkerungszahl im Kleinkreis Tevel ging zwar nach dem Bevölkerungswechsel ein wenig zurück – im größten Maße in der Siedlung Tevel selbst –, aber Tevel und Kisdorog sind mittlere Dörfer, die übrigen sind Kleindörfer mit 500-1000 Personen geblieben. Bátaapáti zeigt eindeutig einen Bevölkerungsrückgang, die Einwohnerzahl ging nach dem Fortziehen der Familien aus dem Komitat Heves, die sich vor der Kollektivierung nach Hause zurücksiedelten, um beinahe 350 Personen zurück. Bis zur zweiten Kollektivierung wuchs die Einwohnerzahl in den Dörfern Lengyel und Mucsfa, während sie in den anderen Dörfern – wenn auch in geringem Maße – zurückging. (Tabelle 16).

Die Entwicklung der Einwohnerzahl ist nicht immer auch ein Maßstab des wirtschaftlichen Erfolgs. Die überbevölkerten Dörfer mit einer Mehrheit der kinderreichen Sekler: Bonyhádvarasd, Závod, Tevel, Mucsfa stellen einen Extremwert dar. Damit lässt sich auch das bis ans Ende der 1970-er Jahre zunehmende Bevölkerungswachstum von  Györe erklären. Am anderen Pol steht Ófalu mit einer deutschen Bevölkerung, die von der Aussiedlung größtenteils verschont blieb. Dort zeigte sich nach dem Weltkrieg nicht das sonst übliche Bevölkerungswachstum, sondern es gab einen Rückgang. In Kisvejke, wo sich nicht zahlreiche Seklerfamilien niedergelassen haben, übernahmen die Magyaren aus Oberungarn, die an die Stelle der Deutschen gekommen waren, das bei den örtlichen Ungarn und Deutschen übliche 1-Kind-Familienmodell, so dass für den Ort ein niedriges natürliches Wachstum charakteristisch war. Einen Übergang stellt der Ort Lengyel mit relativ ausgeglichenen Verhältnissen. Die durchschnittliche Familiengröße betrug bei den Seklern 5,1, bei den Deutschen 4,0 und bei den Magyaren aus Oberungarn 3,7 (Abb. 32, Tabelle 17). Unter den Zentralgemeinden konnten Tevel und Kisvejke, aus verschiedenen Gründen, ihre Vorteile nicht geltend machen, so dass ihre Bevölkerung allmählich zurückging, während Lengyel und Mucsfa steigende Einwohnerzahlen verzeichneten (Tabelle 16).

In den anderthalb Jahrzehnten nach der Wende, in der Zeit der sozialistischen Industrialisierung und der Gründung von landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) stellten die Schule, die Gemeinde mit den dazu gehörenden Feldern, die Arbeitswelt auf den Feldern und in den Betrieben die Schauplätze des Zusammenlebens dar. Die LPGs waren noch ziemlich enge Bereiche des Zusammenlebens, weil die Einzelwirtschaften im Agrarsektor bis ans Ende der Periode überwogen. Die zweite Welle der LPG-Gründungen, das Zentralisierungskonzept „ein Dorf - eine LPG”, die anschließenden Zusammenlegungen von LPGs und die Entstehung der landwirtschaftlichen Großbetriebe setzten der ethnisch begründeten wirtschaftlichen Absonderung ein Ende.

In der Periode von der extensiven Industrialisierung bis zum „Auftauen“ der Diktatur begünstigten die relativ guten Verkehrsverhältnisse in den Dörfern des Völgység in erster Linie das „Pendeln“ der Arbeitskräfte  bzw. teilweise auch den Umzug in mikroregionale und andere Zentren. Dieser Prozess brachte jedoch einen allmählichen Bevölkerungsrückgang mit sich. In der wirtschaftlichen Entwicklung lagen die Ortschaften im Bereich des Komitatsdurchschnitts, und das ist auch eine Erklärung dafür, dass sie in ihren Bevölkerungszahlen auf der Ebene der Kleindörfer verblieben. Die ethnischen Verhältnisse beeinflussten die Entwicklung der Einwohnerzahlen grundlegend.

Neben den früheren betrieblichen und infrastrukturellen wirtschaftlichen Bedingungen sowie dem Status der jeweiligen Siedlung kamen auch die Zusammensetzung der Bevölkerung der einzelnen Dörfer, die Mentalität und die Muster der ethnischen Gruppen zur Geltung. Gegenüber dem 1-Kind-Modell der ortsansässigen Deutschen und Ungarn vor dem 2. Weltkrieg sicherten die Sekler aus der Bukowina ganz bis in die 80-er Jahre die Bevölkerungsreproduktion und bremsten den Abwanderungsprozess in den Dörfern, in denen sie zu einem bestimmenden Bevölkerungselement geworden waren (Abb. 32).

 Ein zunehmend charakteristisches Symptom des Zusammenlebens von Gruppen verschiedener Herkunft war ab den 1960-er Jahren die steigende Zahl der Mischehen in den Dörfern. Die Assimilation bewirkte bei den jüngeren Generationen eine Stärkung der ungarischen Identität, in den Mischehen gab es auch für den gegenseitigen Verlust der ethnischen Identität vielfach Beispiele, es kamen jedoch auch Fälle von Multiidentität vor. Nach der wirtschaftlichen Integration der Siedlergruppen in Völgység kam es bis ans Ende der 1970-er Jahre auch zu deren kultureller Integration. Das Zusammenleben von Deutschen, Seklern und Magyaren aus Oberungarn hat sich als erfolgreich erwiesen – und zwar geleitet von der örtlichen deutschen und ungarischen, der entstehenden neuen seklerischen und der zuwandernden sonstigen ungarischen Intelligenz. Die wirtschaftlich angeschlagene, verfallende Diktatur ließ immer mehr Freiraum für individuelle und gemeinschaftliche Initiativen. Die Symbiose der landwirtschaftlichen Großbetriebe und der ergänzenden privaten „Hauswirtschaften“ war eine wahre Erfolgsgeschichte der Dörfer in den 70-er und 80-er Jahren. Völgység fungierte nicht eindeutig als Schmelztiegel diverser Ethnien, und das Zusammenleben brachte eine spezielle Kultur mit bunter Textur hervor. Mit den von mir skizzierten ethnischen Verhältnissen lassen sich die gesellschaftliche Qualifizierung von 1980 sowie die Daten der Volkszählung im Jahre 2001 vergleichen. (Abb. 50).

Bei der Untersuchung der ethnischen Zusammensetzung habe ich in meinem Fragebogen berücksichtigt, dass die Bevölkerung des Völgység heutzutage aus zwei bestimmenden Nationalitäten, den Ungarn und den Deutschen, besteht, während der Anteil der ethnischen Gruppe der Zigeuner unter 3 % bleibt (Abb. 28). Obwohl jedes Dorf ein eigenes spezielles Bild zeigt, wurden die Siedlungen der 10 Dörfer zum Vergleich anhand ihrer ethnischen Zusammensetzung 3 Typen zugeordnet.

I.                   Gemeinden mit entscheidender Sekler-Bevölkerung: Tevel, Bonyhádvarasd (40%-), Kisdorog, Závod, Mucsfa, Györe (26-33%). In den letzten drei lebt keine bedeutende deutsche Bevölkerung mehr, in den übrigen hat die deutsche Nationalität einen Anteil von mindestens 10%.

II.                Gemeinden mit entscheidender ungarischer Bevölkerung: Lengyel und Bátaapáti, mit sonstigen ungarischen und mindestens 10 % deutschen Bevölkerungsteilen; in Kisvejke, einem Ort mit zerstückelter ethnischer Struktur, ist die lokale ungarische  Bevölkerung bestimmend, aber die Roma-Bevölkerung hat ein mindestens genau so großes Gewicht.

III.             Gemeinde mit deutscher Mehrheit: Ófalu

Die politische Wende 198990 brachte mit der Privatisierung der landwirtschaftlichen Nutzflächen und der Industriebetriebe neue Strukturen hervor. In der Umgestaltung der vorher von LPGs gekennzeichneten Landwirtschaft zeigten sich die ethnischen Verhältnisse auch bei den auf die Aufteilung des Genossenschaftsvermögens folgenden Trennungen. Die LPGs wurden in der Region gerade in den auch von Deutschen bewohnten Gegenden der Komitate Tolna und Baranya: in je drei Siedlungen bei Bonyhád und Mohács, im  Völgységer Nagymányok, Mõcsény und Kisvejke aufgelöst. Bei den Entschädigungszahlungen gehörte Tolna zu den aktivsten Komitaten, aufgrund des Goldkronenwertes der versteigerten Agrargrundstücke nahm es den dritten Platz im landesweiten Vergleich ein. Die private Landwirtschaft zeigte also im Komitat Tolna und auch in Völgység eine starke Expansion. In meinen Untersuchungen ist dieser Faktor nicht so markant repräsentiert, daher halte ich eine weitere Klärung der Rolle von privaten Unternehmen für erforderlich.

Die lokale Gesellschaft war nicht mehr imstande, die negativen Auswirkungen der makrowirtschaftlichen Veränderungen nach der Wende auszugleichen. Die Schwierigkeiten des Strukturwandels, der Marktverlust der Landwirtschaft, der Verfall der traditionellen Gewerbe- und Industriezweige der Gegend – so etwa des Bergbaus –, der Marktverlust in der Leichtindustrie und die Krise der Metall- und Eisenindustrie stellten eine viel zu große Belastung dar. Somit zeigte sich in der Gegend wie in vielen dörflichen Räumen der Region Südtransdanubien ein eindeutiger Bevölkerungsrückgang, wodurch die Siedlungen des Einzugsgebietes sich auf die Kleindorfstruktur hin entwickelten. Das frühere mittlere Entwicklungsniveau, die Entwicklung der lokalen Infrastruktur in den vergangenen 15 Jahren, parallel dazu die Atommülldeponie des AKW, die umweltfreundliche selektive Abfallbehandlung, der qualitative Obst- und Weinanbau, der Dorftourismus, die Forst- und Teichwirtschaft, der zur Zeit erst als Potential vorhandener Fremdenverkehr – der auf der vielfältigen Volkskultur, den Sacksiedlungen mit speziellen Siedlungsstrukturen, der schönen Hügellandschaft, den Denkmälern und Museumseinrichtungen aufgebaut werden kann , haben die Ausbruchstellen der postindustriellen Periode vorgegeben. Zu Beginn des 21. Jhs., im Europa der Regionen verstärkte sich mit dem EU-Beitritt Ungarns die Rolle der Ethnizität, der ethnischen und kulturellen Identität sowie der Mikroregionen. Es setzte ein Prozess ein, der mit neuen entwicklungsbezogenen Zweckverbänden die Komitatsgrenzen abbaut und für eine Region der objektiven Räume, für eine Region der Einzugsgebiete grünes Licht zeigt.

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